Berufsregeln der Rechtsanwälte der Europäischen Union
geändert durch die CCBE-Vollversammlung am 28. November 1998 in Lyon
1. Vorspruch
1.1. Der Rechtsanwalt in der Gesellschaft
In einer auf die Achtung des Rechtes gegründeten Gesellschaft hat der Rechtsanwalt eine besonders wichtige Funktion. Seine Aufgabe beschränkt sich nicht auf die gewissenhafte Ausführung eines Auftrages im Rahmen des Gesetzes. Der Rechtsanwalt ist in einem Rechtsstaat sowohl für die Justiz als auch für den Rechtsuchenden, dessen Rechte und Freiheiten er zu wahren hat, unentbehrlich; der Rechtsanwalt ist nicht nur der Vertreter, sondern auch der Berater seines Mandanten.
Bei der Ausführung seines Auftrages unterliegt der Rechtsanwalt zahlreichen gesetzlichen und berufsrechtlichen Pflichten, die zum Teil zueinander in Widerspruch zu stehen scheinen. Es handelt sich dabei um Pflichten gegenüber
- dem Mandanten.
- Gerichten und Behörden, denen gegenüber der Rechtsanwalt seinem Mandanten beisteht und ihn vertritt,
- seinem Berufsstand im Allgemeinen und jedem Kollegen im Besonderen,
- der Gesellschaft, für die ein freier, unabhängiger und durch sich selbst auferlegte Regeln integerer Berufsstand ein wesentliches Mittel zur Verteidigung der Rechte des einzelnen gegenüber dem Staat und gegenüber Interessengruppen ist.
1.2. Gegenstand des Berufsrechtes
1.2.1. Die freiwillige Unterwerfung unter die Berufsregeln dient dem Zweck, die ordnungsgemäße Wahrnehmung seiner für die Gemeinschaft unerlässlichen Aufgaben durch den Rechtsanwalt sicherzustellen. Beachtet der Rechtsanwalt die Berufsregeln nicht, so führt dies schließlich zu einer Disziplinarmaßnahme.
1.2.2. Jede Anwaltschaft hat eigene auf ihrer besonderen Tradition beruhende Regeln. Diese entsprechen der Organisation des Berufsstandes und dem anwaltlichen Tätigkeitsbereich, dem Verfahren vor den Gerichten und Behörden sowie den Gesetzen des betreffenden Mitgliedsstaates. Es ist weder möglich noch wünschenswert, sie aus diesem Zusammenhang herauszureißen oder Regeln zu verallgemeinern, die dafür nicht geeignet sind. Die einzelnen Berufsregeln jeder Anwaltschaft beruhen jedoch auf den gleichen Grundwerten und sind ganz überwiegend Ausdruck einer gemeinsamen Grundüberzeugung.
1.3. Ziel und Zweck der Europäischen Berufsregeln
1.3.1. Durch die Entwicklung der Europäischen Union und des Europäischen Wirtschaftsraumes und die im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraumes immer stärker werdende grenzüberschreitende Tätigkeit des Rechtsanwaltes ist es im Interesse der Rechtsuchenden notwendig geworden, für diese grenzüberschreitende Tätigkeit einheitliche, auf jeden Rechtsanwalt des Europäischen Wirtschaftsraumes anwendbare Regeln festzulegen, unabhängig davon, welcher Anwaltschaft der Rechtsanwalt angehört. Die Aufstellung solcher Berufsregeln hat insbesondere zum Ziel, die sich aus der konkurrierenden Anwendung mehrerer Berufsrechte - die in Artikel 4 der Richtlinie Nr. 77/249 vom 22. März 1977 vorgesehen ist - ergebenden Schwierigkeiten zu verringern.
1.3.2. Die im CCBE zusammengeschlossenen, den anwaltlichen Berufsstand repräsentierenden Organisationen sprechen den Wunsch aus, dass die nachstehenden Berufsregeln
- bereits jetzt als Ausdruck der gemeinsamen Überzeugung aller Anwaltschaften der Europäischen Union und des Europäischen Wirtschaftsraumes anerkannt werden,
- in kürzester Zeit durch nationales und/oder EWR - Recht für die grenzüberschreitende Tätigkeit des Rechtsanwaltes in der Europäischen Union und dem Europäischen Wirtschaftsraum verbindlich erklärt werden,
- bei jeder Reform des nationalen Berufsrechtes im Hinblick auf dessen allmähliche Harmonisierung berücksichtigt werden.
Sie verbinden damit weiter den Wunsch, dass die nationalen Berufsregeln soweit wie möglich in einer Weise ausgelegt und angewendet werden, die mit den Europäischen Berufsregeln in Einklang steht.
Wenn die Europäischen Berufsregeln hinsichtlich der grenzüberschreitenden anwaltlichen Tätigkeit verbindlich geworden sind, untersteht der Rechtsanwalt weiter den Berufsregeln der Anwaltschaft, der er angehört, soweit diese zu den Europäischen Berufsregeln nicht in Widerspruch stehen.
1.4. Persönlicher Anwendungsbereich
Die nachstehenden Berufsregeln sind auf alle Rechtsanwälte der Europäischen Union und des Europäischen Wirtschaftsraumes im Sinne der Richtlinie Nr. 77/249 vom 22. März 1977 anwendbar.
1.5. Sachlicher Anwendungsbereich
Unbeschadet des Zieles einer allmählichen Vereinheitlichung des innerstaatlich geltenden Berufsrechtes sind die nachstehenden Berufsregeln auf die grenzüberschreitende Tätigkeit des Rechtsanwaltes innerhalb der Europäischen Union und des Europäischen Wirtschaftsraumes anwendbar. Als grenzüberschreitende Tätigkeit gilt:
a) jede Tätigkeit gegenüber Rechtsanwälten anderer Mitgliedsstaaten anlässlich anwaltlicher Berufsausübung,
b) die berufliche Tätigkeit eines Rechtsanwaltes in einem anderen Mitgliedsstaat, gleichgültig ob er dort anwesend ist oder nicht.
1.6. Definitionen
Für die nachstehenden Berufsregeln haben folgende Ausdrücke folgende Bedeutung:
"Herkunftsstaat" bezeichnet den Mitgliedsstaat, zu dessen Anwaltschaft der Rechtsanwalt gehört.
"Aufnahmestaat" bezeichnet den Mitgliedsstaat, in dem der Rechtsanwalt eine grenzüberschreitende Tätigkeit verrichtet.
"Zuständige Stelle" bezeichnet die berufsspezifischen Organisationen oder Behörden der Mitgliedsstaaten, die für die Erlassung von Berufsregeln und Disziplinaraufsicht zuständig sind.
2. Allgemeine Grundsätze
2.1. Unabhängigkeit
2.1.1. Die Vielfältigkeit der dem Rechtsanwalt obliegenden Pflichten setzt seine Unabhängigkeit von sachfremden Einflüssen voraus; dies gilt insbesondere für die eigenen Interessen des Rechtsanwaltes und die Einflussnahme Dritter. Diese Unabhängigkeit ist für das Vertrauen in die Justiz ebenso wichtig wie die Unparteilichkeit des Richters. Der Rechtsanwalt hat daher Beeinträchtigungen seiner Unabhängigkeit zu vermeiden und darf nicht aus Gefälligkeit gegenüber seinem Mandanten, dem Richter oder einem Dritten das Berufsrecht außer Acht lassen.
2.1.2. Die Wahrung der Unabhängigkeit ist für die
außergerichtliche Tätigkeit ebenso wichtig wie für die Tätigkeit vor Gericht,
denn der anwaltliche Rat verliert für den Mandanten an Wert, wenn er aus
Gefälligkeit, aus persönlichem Interesse oder unter dem Druck dritter Personen
erteilt wird.
2.2. Vertrauen und Würde
Das Vertrauensverhältnis setzt voraus, dass keine
Zweifel über die Ehrenhaftigkeit, die Unbescholtenheit und die Rechtschaffenheit
des Rechtsanwaltes bestehen. Diese traditionellen Werte des Anwaltsstandes sind
für den Rechtsanwalt gleichzeitig Berufspflichten.
2.3. Berufsgeheimnis
2.3.1. Es gehört zum Wesen der Berufstätigkeit des
Rechtsanwaltes, dass sein Mandant ihm Geheimnisse anvertraut und er sonstige
vertrauliche Mitteilungen erhält. Ist die Vertraulichkeit nicht gewährleistet,
kann kein Vertrauen entstehen. Aus diesem Grund ist das Berufsgeheimnis
gleichzeitig ein Grundrecht und eine Grundpflicht des Rechtsanwaltes von
besonderer Bedeutung.
Die Pflicht des Rechtsanwaltes zur Wahrung des
Berufsgeheimnisses dient dem Interesse der Rechtspflege ebenso wie dem Interesse
des Mandanten. Daher verdient sie besonderen Schutz durch den Staat.
2.3.2. Der Rechtsanwalt hat die Vertraulichkeit aller
Informationen zu wahren, die ihm im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit bekannt
werden.
2.3.3. Die Pflicht zur Wahrung des Berufsgeheimnisses
ist zeitlich unbegrenzt.
2.3.4. Der Rechtsanwalt achtet auf die Wahrung der
Vertraulichkeit durch seine Mitarbeiter und alle Personen, die bei seiner
beruflichen Tätigkeit mitwirken.
2.4. Achtung des Berufsrechtes anderer
Anwaltschaften
Der Rechtsanwalt kann aufgrund des Rechtes der
Europäischen Union und des Rechtes des Europäischen Wirtschaftsraumes
verpflichtet sein, das Berufsrecht eines Aufnahmestaates zu beachten. Der
Rechtsanwalt hat die Pflicht, sich über die bei Ausübung einer bestimmten
Tätigkeit anwendbaren berufsrechtlichen Regeln zu informieren.
Die Mitgliedsorganisationen des CCBE sind verpflichtet,
ihre Berufsregeln im Sekretariat des CCBE zu hinterlegen, sodass jeder
Rechtsanwalt die Möglichkeit hat, eine Kopie der geltenden Berufsregeln bei dem
Sekretariat anzufordern.
2.5. Unvereinbare Tätigkeiten
2.5.1. Der Beruf des Rechtsanwaltes ist mit bestimmten
Berufen und Tätigkeiten unvereinbar, damit die Unabhängigkeit des Rechtsanwaltes
und seine Pflicht zur Mitwirkung bei der Rechtspflege nicht beeinträchtigt
werden.
2.5.2. Bei der Vertretung oder Verteidigung eines
Mandanten vor den Gerichten oder Behörden eines Aufnahmestaates beachtet der
Rechtsanwalt die für Rechtsanwälte dieses Staates geltenden Regeln über die
Unvereinbarkeit des Berufes des Rechtsanwaltes mit anderen Berufen oder
Tätigkeiten.
2.5.3. Beabsichtigt der in einem Aufnahmestaat
niedergelassene Rechtsanwalt, dort unmittelbar eine kaufmännische oder sonstige
vom Beruf des Rechtsanwaltes verschiedene Tätigkeit auszuüben, so ist er dabei
auch verpflichtet, die für die Rechtsanwälte dieses Staates geltenden Regeln
über die Unvereinbarkeit des Berufes des Rechtsanwalts mit anderen Berufen oder
Tätigkeiten zu beachten.
2.6. Persönliche Werbung
2.6.1. Der Rechtsanwalt darf nicht persönlich werben
oder für sich werben lassen, wo dies unzulässig ist. In anderen Fällen darf der
Rechtsanwalt nur insoweit persönlich werben oder für sich werben lassen, wie
dies durch die Regeln der Berufsorganisation, der er angehört, gestattet
ist.
2.6.2. persönliche Werbung, insbesondere Werbung in den
Medien, gilt als an einem Ort vorgenommen, wo sie zulässig ist, wenn der
Rechtsanwalt nachweist, dass sie mit dem Ziel erfolgte, Mandanten oder
potenzielle Mandanten an diesem Ort zu erreichen und die Kenntnisnahme an einem
anderen Ort unbeabsichtigt erfolgt.
2.7. Interesse der Mandanten
Vorbehaltlich der gesetzlichen und berufsrechtlichen
Vorschriften ist der Rechtsanwalt verpflichtet, seinen Mandanten in solcher
Weise zu vertreten und/oder zu verteidigen, dass das Mandanteninteresse dem
Interesse des Rechtsanwaltes, eines Kollegen oder der Kollegenschaft insgesamt
vorgeht.
2.8. Begrenzung der Haftung des Rechtsanwaltes gegenüber
seinem Mandanten
In dem von dem Recht des Herkunftsstaates und des
Aufnahmestaates zulässigen Umfang und in Übereinstimmung mit den
berufsrechtlichen Bestimmungen, denen er unterliegt, kann der Rechtsanwalt seine
Haftung gegenüber seinem Mandanten begrenzen.
3. Das Verhalten gegenüber den Mandanten
3.1. Beginn und Ende des Mandats
3.1.1. Der Rechtsanwalt darf nur im Auftrag seines
Mandanten tätig werden, es sei denn, er wird von einem anderen den Mandanten
vertretenden Rechtsanwalt beauftragt oder der Fall wird ihm durch eine sachlich
zuständige Stelle übertragen.
Der Rechtsanwalt sollte sich bemühen, die Identität,
Zuständigkeit und Befugnis der ihn beauftragenden Person oder Stelle
festzustellen, wenn die spezifischen Umstände zeigen, dass Identität,
Zuständigkeit und Befugnis unklar sind.
3.1.2. Der Rechtsanwalt berät und vertritt seinen
Mandanten unverzüglich, gewissenhaft und sorgfältig. Er ist für die Ausführung
des ihm erteilten Mandats persönlich verantwortlich. Er unterrichtet seinen
Mandanten vom Fortgang der ihm übertragenen Angelegenheit.
3.1.3. Der Rechtsanwalt hat ein Mandat abzulehnen, wenn
er weiß oder wissen muss, dass es ihm an den erforderlichen Kenntnissen fehlt,
es sei denn, er arbeitet mit einem Rechtsanwalt zusammen, der diese Kenntnisse
besitzt.
Der Rechtsanwalt darf ein Mandat nur annehmen, wenn er
die Sache im Hinblick auf seine sonstigen Verpflichtungen unverzüglich
bearbeiten kann.
3.1.4. Der Rechtsanwalt darf sein Recht zur
Mandatsniederlegung nur derart ausüben, dass der Mandant in der Lage ist, ohne
Schaden den Beistand eines anderen Kollegen in Anspruch zu nehmen.
3.2. Interessenkonflikt
3.2.1. Der Rechtsanwalt darf mehr als einen Mandanten in
der gleichen Sache nicht beraten, vertreten oder verteidigen, wenn ein
Interessenkonflikt zwischen den Mandanten oder die ernsthafte Gefahr eines
solchen Konfliktes besteht.
3.2.2. Der Rechtsanwalt muss das Mandat gegenüber allen
betroffenen Mandanten niederlegen, wenn es zu einem Interessenkonflikt kommt,
wenn die Gefahr der Verletzung der Berufsverschwiegenheit besteht oder die
Unabhängigkeit des Rechtsanwaltes beeinträchtigt zu werden droht.
3.2.3. Der Rechtsanwalt darf ein neues Mandat dann nicht
übernehmen, wenn die Gefahr der Verletzung der Verschwiegenheitspflicht
bezüglich der von einem früheren Mandanten anvertrauten Information besteht oder
die Kenntnis der Angelegenheit eines früheren Mandanten dem neuen Mandanten zu
einem ungerechtfertigten Vorteil gereichen würde.
3.2.4. Üben Rechtsanwälte ihren Beruf gemeinsam aus, so
sind die Bestimmungen der Artikel 3.2.1. bis 3.2.3. auf die Sozietät und alle
ihre Mitglieder anzuwenden.
3.3. Quota-litis-Vereinbarung
3.3.1. Der Rechtsanwalt darf hinsichtlich seines
Honorars keine quota-litis-Vereinbarung abschließen.
3.3.2. Quota-litis-Vereinbarung im Sinne dieser
Bestimmung ist ein vor Abschluss der Rechtssache geschlossener Vertrag, der das
an den Rechtsanwalt zu zahlende Honorar ausschließlich von dem Ergebnis abhängig
macht und in dem sich der Mandant verpflichtet, dem Anwalt einen Teil des
Ergebnisses zu zahlen.
3.3.3. Ein Vertrag sollte nicht als
quota-litis-Vereinbarung betrachtet werden, wenn er vor Abschluss der
Rechtssache geschlossen wird und den Grundsatz über eine zusätzliche Zahlung bei
positivem Ergebnis enthält, und wenn die Höhe dieser Sonderzahlung im Nachhinein
im Rahmen offener Verhandlungen zwischen dem Mandanten und dem Rechtsanwalt
bestimmt werden soll.
3.3.4. Eine quota-litis-Vereinbarung liegt dann nicht
vor, wenn die Vereinbarung die Berechnung des Honorars aufgrund des Streitwertes
vorsieht und einem amtlichen oder von der für den Rechtsanwalt zuständigen
Stelle genehmigten Tarif entspricht.
3.4. Honorarabrechnung
3.4.1. Der Rechtsanwalt hat seinem Mandanten die
Grundlagen seiner gesamten Honorarforderungen offen zu legen; der Betrag des
Honorars muss angemessen sein.
3.4.2. Vorbehaltlich einer abweichenden, gesetzlich
zulässigen Vereinbarung des Rechtsanwaltes mit seinem Mandanten ist das Honorar
entsprechend den Regeln der Berufsorganisation zu berechnen, der der
Rechtsanwalt angehört. Gehört der Rechtsanwalt mehreren Berufsorganisationen an,
so sind die Regeln der Berufsorganisation maßgebend, mit der das
Mandatsverhältnis die engste Verbindung hat.
3.5. Vorschuss auf Honorar und Kosten
Verlangt der Rechtsanwalt einen Vorschuss auf seine
Kosten und/oder sein Honorar, darf dieser nicht über einen unter
Berücksichtigung der voraussichtlichen Höhe des Honorars und der Kosten
angemessenen Betrag hinausgehen. Wird der Vorschuss nicht gezahlt, kann der
Rechtsanwalt das Mandat niederlegen oder ablehnen, unbeschadet der Vorschrift
des Artikels 3.1.4.
3.6. Honorarteilung mit anderen Personen als
Anwälten
3.6.1. Vorbehaltlich der nachstehenden Regel ist es dem
Rechtsanwalt verboten, sein Honorar mit einer Person zu teilen, die nicht selbst
Rechtsanwalt ist, es sei denn, die gemeinschaftliche Berufsausübung ist vom
Gesetz des Mitgliedsstaates, dem der Rechtsanwalt angehört,
gestattet.
3.6.2. Artikel 3.6.1. gilt nicht für Zahlungen oder
Leistungen eines Anwaltes an die Erben eines verstorbenen Kollegen oder an einen
früheren Rechtsanwalt als Vergütung für die Übernahme einer Praxis.
3.7. Kosteneffektive Lösung von Streitfällen und
Prozess- und Beratungskostenhilfe
3.7.1. Der Rechtsanwalt sollte immer danach trachten,
den Streitfall des Mandanten so kostengünstig wie möglich zu lösen und sollte
den Mandanten zum geeigneten Zeitpunkt dahingehend beraten, ob es wünschenswert
ist, eine Streitbeilegung zu versuchen oder auf ein alternatives
Streitbeilegungsverfahren zu verweisen.
3.7.2. Hat der Mandant Anspruch auf Prozess- oder
Beratungskostenhilfe, so hat der Rechtsanwalt ihn darauf hinzuweisen.
3.8. Mandantengelder
3.8.1. Werden dem Rechtsanwalt zu irgendeinem Zeitpunkt
Gelder anvertraut, die für seine Mandanten oder Dritte bestimmt sind
(nachstehend "Mandantengelder"), so hat er folgende Vorschriften zu
beachten:
3.8.1.1. Mandantengelder sollen immer auf ein Konto bei
einem Kreditinstitut, das öffentlicher Aufsicht unterliegt, eingezahlt werden.
Alle von einem Rechtsanwalt empfangenen Mandantengelder sind auf ein solches
Konto einzuzahlen, es sei denn, der Mandant hat ausdrücklich oder
stillschweigend eine andere Verwendung genehmigt.
3.8.1.2. Für jedes auf den Namen des Rechtsanwaltes
lautende Konto, auf das Mandantengelder eingezahlt wurden, ist durch
Kontobezeichnung ersichtlich zu machen, dass es sich bei den eingezahlten
Beträgen um Mandantengelder handelt.
3.8.1.3. Die Konten des Rechtsanwaltes, auf die
Mandantengelder eingezahlt wurden, müssen immer ein Guthaben ausweisen, das
mindestens der Summe der dem Rechtsanwalt anvertrauten Mandantengelder
entspricht.
3.8.1.4. Mandantengelder sind an den Mandanten umgehend
oder gemäß den Bedingungen auszuzahlen, die mit dem Mandanten vereinbart
wurden.
3.8.1.5. Vorbehaltlich entgegenstehender gesetzlicher
Vorschriften oder gerichtlicher Anordnung und vorbehaltlich der ausdrücklichen
oder stillschweigenden Einwilligung des Mandanten, für den die Zahlung
vorgenommen wird, ist die Auszahlung von Mandantengeldern an eine dritte Person
unzulässig; dies gilt auch für:
a) Zahlungen an einen Mandanten oder für einen Mandanten
mit Geldern eines anderen Mandanten;
b) den Ausgleich der Honorarforderungen des Rechtsanwaltes.
3.8.1.6. Der Rechtsanwalt hat über alle die
Mandantengelder betreffenden Vorgänge vollständig und genau Buch zu führen,
wobei Mandantengelder von sonstigen Guthaben zu trennen sind; der Rechtsanwalt
übergibt dem Mandanten auf Ersuchen die Kontoauszüge.
3.8.1.7. Die zuständigen Stellen der Mitgliedsstaaten
sind berechtigt, die auf Mandantengelder bezüglichen Unterlagen unter Wahrung
der Berufsverschwiegenheit einzusehen und zu überprüfen, um die Einhaltung der
von ihnen aufgestellten Regeln zu überwachen und Verstöße zu ahnden.
3.8.2. Vorbehaltlich der nachstehenden Bestimmung und
des Artikels 3.8.1. hat der Rechtsanwalt, dem Mandantengelder im Rahmen einer
Tätigkeit in einem anderen Mitgliedsstaat anvertraut werden, die auf
Mandantengelder anwendbaren Regeln der Berufsorganisation zu beachten, der er
angehört.
3.8.3. Übt der Rechtsanwalt seine Tätigkeit in einem
Aufnahmestaat aus, so kann er mit Genehmigung der zuständigen Stellen des
Herkunfts- und des Aufnahmestaates ausschließlich die Regeln des Aufnahmestaates
beachten, ohne an die Einhaltung der Regeln des Herkunftsstaates gebunden zu
sein. In diesem Fall hat er das Erforderliche zu veranlassen, um seine Mandanten
davon zu informieren, dass auf ihn die Regeln des Aufnahmestaates Anwendung
finden.
3.9. Berufshaftpflichtversicherung
3.9.1. Der Rechtsanwalt muss gegen Berufshaftpflicht
ständig in einer Weise versichert sein, die nach Art und Umfang den durch
rechtsanwaltliche Tätigkeit entstehenden Risiken angemessen ist.
3.9.2. Übt der Rechtsanwalt seine Tätigkeit in einem
Aufnahmestaat aus, gilt folgende Regelung:
3.9.2.1. Der Rechtsanwalt hat die Vorschriften zu
befolgen, die bezüglich der Versicherungspflicht für Rechtsanwälte in seinem
Herkunftsstaat gelten.
3.9.2.2. Ist der Rechtsanwalt in seinem Herkunftsstaat
verpflichtet, eine Berufshaftpflichtversicherung abzuschließen und übt er eine
Tätigkeit in einem anderen Mitgliedsstaat aus, so hat er sich um die Ausdehnung
des Versicherungsschutzes auf seine Tätigkeit im Aufnahmestaat auf der Basis des
Versicherungsschutzes in seinem Herkunftsstaat zu bemühen.
3.9.2.3. Ist der Rechtsanwalt nach den Vorschriften des
Herkunftsstaates nicht zum Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung
verpflichtet oder ist die in Artikel 3.9.2.2. vorgesehene Ausdehnung des
Versicherungsschutzes unmöglich, so ist der Rechtsanwalt dennoch verpflichtet,
sich für die in einem Aufnahmestaat zugunsten von Mandanten des Aufnahmestaates
erbrachte Tätigkeit zumindest im gleichen Umfang wie die Rechtsanwälte des
Aufnahmestaates zu versichern, es sei denn, die Erlangung eines solchen
Versicherungsschutzes erweist sich als unmöglich.
3.9.2.4. Ist es dem Rechtsanwalt nicht möglich, einen
den vorstehenden Bestimmungen entsprechenden Versicherungsschutz zu erhalten,
hat er die Mandanten zu unterrichten, die wegen des fehlenden
Versicherungsschutzes Schaden erleiden könnten.
3.9.2.5. Übt der Rechtsanwalt seine Tätigkeit in einem
Aufnahmestaat aus, so kann er mit Genehmigung der zuständigen Stellen des
Herkunfts- und des Aufnahmestaates ausschließlich die für die
Berufshaftpflichtversicherung in dem Aufnahmestaat geltenden Vorschriften
beachten. In diesem Fall hat der Rechtsanwalt alle zumutbaren Schritte zu
unternehmen, um seine Mandanten davon zu informieren, dass sein
Versicherungsschutz den in dem Aufnahmestaat geltenden Regeln
entspricht.
4. Das Verhalten gegenüber den Gerichten
4.1. Auf die Prozesstätigkeit anwendbares
Berufsrecht
Der vor einem Gericht eines Mitgliedsstaates auftretende
oder an einem vor einem solchen Gericht anhängigen Verfahren beteiligte
Rechtsanwalt hat die vor diesem Gericht geltenden Berufsregeln zu
beachten.
4.2. Wahrung der Chancengleichheit im Prozess
Der Rechtsanwalt hat jederzeit auf eine faire
Verfahrensführung zu achten. Er darf unter anderem mit einem Richter in einer
Rechtssache keine Verbindung aufnehmen, außer er informiert zuvor den
Gegenanwalt, und er darf einem Richter keine Unterlagen, Notizen oder andere
Schriftstücke übergeben, außer diese würden rechtzeitig dem Gegenanwalt
übermittelt, es sei denn, das Verfahrensrecht gestattet dies. Soweit es
gesetzlich nicht verboten ist, darf der Rechtsanwalt ohne ausdrückliche
Zustimmung des Rechtsanwalts der anderen Partei Vorschläge der anderen Partei
oder ihres Rechtsanwalts zur Beilegung der Rechtssache nicht an das Gericht
weitergeben oder übergeben.
4.3. Achtung des Gerichtes
Im Rahmen der dem Richteramt gebührenden Achtung und
Höflichkeit hat der Rechtsanwalt die Interessen seines Mandanten gewissenhaft
und furchtlos, ungeachtet eigener Interessen und/oder ihm oder anderen Personen
entstehenden Folgen zu vertreten.
4.4. Mitteilung falscher oder irreführender
Tatsachen
Der Rechtsanwalt darf dem Gericht niemals vorsätzlich
unwahre oder irreführende Angaben machen.
4.5. Anwendung auf Schiedsrichter und Personen mit
ähnlichen Aufgaben
Die Vorschriften über das Verhältnis des Rechtsanwaltes
zum Richter gelten auch für sein Verhältnis zu Schiedsrichtern oder sonstigen
Personen, die dauernd oder gelegentlich richterliche oder quasi- richterliche
Funktionen ausüben.
5. Das Verhalten gegenüber den Kollegen
5.1. Kollegialität
5.1.1. Im Interesse des Mandanten und zur Vermeidung
unnötiger Streitigkeiten und anderen Verhaltens, das das Ansehen des
Berufsstandes schädigen könnte, setzt Kollegialität ein Vertrauensverhältnis und
Bereitschaft zur Zusammenarbeit zwischen Rechtsanwälten voraus. Kollegialität
darf jedoch unter keinen Umständen dazu führen, die Interessen der Anwälte denen
des Mandanten entgegenzustellen.
5.1.2. Jeder Rechtsanwalt hat Rechtsanwälte eines
anderen Mitgliedsstaates als Kollegen anzuerkennen und ihnen gegenüber fair und
höflich aufzutreten.
5.2. Zusammenarbeit von Anwälten aus verschiedenen
Mitgliedsstaaten
5.2.1. Der Rechtsanwalt, an den sich ein Kollege aus
einem anderen Mitgliedsstaat wendet, ist verpflichtet, in einer Sache nicht
tätig zu werden, wenn er nicht hinreichend qualifiziert ist; er hat in diesem
Fall seinem Kollegen dabei behilflich zu sein, einen Rechtsanwalt zu finden, der
in der Lage ist, die erwartete Leistung zu erbringen.
5.2.2. Arbeiten Rechtsanwälte aus verschiedenen
Mitgliedsstaaten zusammen, haben beide die sich möglicherweise aus den
verschiedenen Rechtssystemen, Berufsorganisationen, Zuständigkeiten und
Berufspflichten ergebenden Unterschiede zu berücksichtigen.
5.3. Korrespondenz unter Rechtsanwälten
5.3.1. Der Rechtsanwalt, der an einen Kollegen aus einem
anderen Mitgliedsstaat eine Mitteilung sendet, die vertraulich oder "ohne
Präjudiz" sein soll, muss diesen seinen Willen bei Absendung der Mitteilung klar
zum Ausdruck bringen.
5.3.2. Ist der Empfänger der Mitteilung nicht in der
Lage, diese als vertraulich oder "ohne Präjudiz" im vorstehenden Sinne zu
behandeln, so hat er diese an den Absender zurückzusenden, ohne ihren Inhalt
bekanntzumachen.
5.4. Vermittlungshonorar
5.4.1. Es ist dem Rechtsanwalt untersagt, von einem
anderen Rechtsanwalt oder einem sonstigen Dritten für die Namhaftmachung oder
Empfehlung des Rechtsanwaltes an einen Mandanten ein Honorar, eine Provision
oder jede andere Gegenleistung zu verlangen oder anzunehmen.
5.4.2. Der Rechtsanwalt darf niemand für die Vermittlung
eines Mandanten ein Honorar, eine Provision oder eine sonstige Gegenleistung
gewähren.
5.5. Umgehung des Gegenanwaltes
Es ist dem Rechtsanwalt untersagt, sich bezüglich einer
bestimmten Sache mit einer Person in Verbindung zu setzen, von der er weiß, dass
sie einen Rechtsanwalt mit ihrer Vertretung beauftragt oder seinen Beistand in
Anspruch genommen hat, es sei denn, dieser Rechtsanwalt hat zugestimmt und er
hält ihn unterrichtet.
5.6. Anwaltswechsel
5.6.1. Ein Rechtsanwalt darf die Nachfolge eines
Kollegen in der Vertretung der Interessen eines Mandanten in einer bestimmten
Angelegenheit nur antreten, wenn er den Kollegen davon unterrichtet und sich
vergewissert hat, dass die Vertretung durch den anderen Rechtsanwalt beendet
wurde oder unverzüglich beendet wird, sofern sich aus Artikel 5.6.2. nichts
anderes ergibt.
5.6.2. Sind eilige Maßnahmen im Interesse des Mandanten
zu treffen, bevor die in Artikel 5.6.1. aufgestellten Bedingungen erfüllt werden
können, so kann der Rechtsanwalt diese Maßnahmen treffen, wenn er seinen
Vorgänger davon sofort unterrichtet.
5.7. Haftung für Honorarforderungen unter
Kollegen
Im beruflichen Verkehr zwischen Rechtsanwälten
verschiedener Mitgliedsstaaten ist der Rechtsanwalt, der sich nicht darauf
beschränkt, seinem Mandanten einen ausländischen Kollegen zu benennen oder das
Mandat zu vermitteln, sondern eine Angelegenheit einem ausländischen Kollegen
überträgt oder diesen um Rat bittet, persönlich dann zur Zahlung des Honorars,
der Kosten und der Auslagen des ausländischen Kollegen verpflichtet, wenn
Zahlung von dem Mandanten nicht erlangt werden kann. Die betreffenden
Rechtsanwälte können jedoch zu Beginn ihrer Zusammenarbeit anderweitige
Vereinbarungen treffen. Der beauftragende Rechtsanwalt kann ferner zu jeder Zeit
seine persönliche Verpflichtung auf das Honorar und die Kosten und Auslagen
beschränken, die bis zu dem Zeitpunkt angefallen sind, in welchem er seinem
ausländischen Kollegen mitteilt, dass er nicht mehr haften werde.
5.8. Ausbildung junger Anwälte
Im wohlverstandenen Interesse der Mandanten sowie zu
Verstärkung des Vertrauens und der Zusammenarbeit zwischen den Rechtsanwälten
der Mitgliedsstaaten ist es erforderlich, eine bessere Kenntnis der materiellen
Gesetze und der Verfahrensgesetze der einzelnen Mitgliedsstaaten zu fördern. Zu
diesem Zweck soll der Rechtsanwalt - eingedenk des beruflichen Bedürfnisses zur
guten Ausbildung des Nachwuchses - die Notwendigkeit der Ausbildung junger
Kollegen aus anderen Mitgliedsstaaten gebührend berücksichtigen.
5.9. Streitschlichtung zwischen Kollegen aus
verschiedenen Mitgliedsstaaten
5.9.1. Ist ein Rechtsanwalt der Auffassung, dass ein
Kollege aus einem anderen Mitgliedsstaat gegen das Berufsrecht verstoßen hat,
hat er diesen darauf hinzuweisen.
5.9.2. Kommt es zwischen Rechtsanwälten aus
verschiedenen Mitgliedsstaaten zum Streit in Fragen der Berufsausübung, haben
sie sich zunächst um eine gütliche Regelung zu bemühen.
5.9.3. Der Rechtsanwalt, der beabsichtigt, gegen einen
Kollegen aus einem anderen Mitgliedsstaat wegen Angelegenheiten, auf die Artikel
5.9.1. oder 5.9.2. Bezug nehmen, ein Verfahren einzuleiten, hat davon zuvor
seine und seines Kollegen Berufsorganisationen zu benachrichtigen, damit diese
sich um eine gütliche Regelung bemühen können.